Klaus Möller: Kunst im Internet (Netzkunst) - Untersuchungen zur Ästhetischen Bildung (Bielefeld 1999)

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Inhaltsverzeichnis - Literaturverzeichnis

4. Netzkunst als Gegenstand ästhetischer Bildung


4. Netzkunst als Gegenstand ästhetischer Bildung

Grundlage ästhetischer Bildung ist die ästhetische Wahrnehmung. Diese zeigt sich idealer Weise in der Kunstwahrnehmung. Am Kunstwerk kann der Betrachter Erfahrungen machen, die es ihm ermöglichen, zu sich selbst und zu seiner Umwelt auf Distanz zu gehen. Er wird in die Lage versetzt, sein Handeln und das Handeln anderer zu reflektieren. Dies zu fördern, ist Aufgabe ästhetischer Bildung (siehe Abschnitt 4.1).

Ästhetische Bildung enthält die Heranführung an künstlerische Produktionsweisen sowie die Auseinandersetzung über den künstlerischen Umgang mit den verwendeten Medien. Demnach ist der Umgang mit dem Computer und dem Internet Teil des Bildungsprozesses, der mit der Rezeption von Netzkunst verbunden werden kann. Dies liegt auf der Hand, da der Computer in Verbindung mit Telekommunikationsnetzen sowohl Produktions- als auch Rezeptionsmedium von Netzkunst ist.

Norbert Meder geht davon aus, daß in dem Medium Computer bzw. der Technologie der Digitalisierung eine neue Kulturtechnik zu sehen ist. Sie durchdringt alle Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens und bietet Problemlösungen an, die einen gesellschaftlichen Wert darstellen.(1)

Dies unterstreicht die Bedeutung des Computers im Allgemeinen wie für die Bildung und deutet an, daß die Betrachtung einer Kunstform, die das Medium Computer nutzt, zu bildungs- und gesellschaftsrelevanten Erkenntnissen führen kann.

In diesem Kapitel möchte ich nun Netzkunst aus bildungstheoretischer Sicht betrachten. Ich werde dabei, anhand eines Beispiels aufzeigen, welches Potential an Bildungsmöglichkeiten die Betrachtung von Netzkunst bietet (siehe Abschnitt 4.3 und 4.4). Dabei soll und kann keine umfassende Beschreibung der Bedeutung von Netzkunst für die ästhetische Bildung entstehen. Es geht vielmehr darum, exemplarisch einige Aspekte zu beleuchten, die den Bildungswert von Netzkunst hervorheben und die als Ausgangspunkte für weitere Untersuchungen zu diesem Thema dienen können. 

4.1 Die Rolle des Betrachters 

Um sich der Bedeutung von Kunsterfahrung in der ästhetischen Bildung und dem Begriff ästhetischer Erfahrung anzunähern, möchte ich zwei theoretische Ansätze einführen.

Dabei handelt es sich um John Dewey's Definition von Kunst, die er mit Hilfe ästhetischer Erfahrung erklärt. Der Betrachter nimmt bei Dewey eine zentrale Stellung ein, da das Kunstwerk erst in der Kunsterfahrung entsteht (siehe Abschnitt 4.1.1). Dies bedeutet, daß ein Kunstwerk Eigenschaften aufweisen muß, die unterschiedliche Deutungen durch den Betrachter zulassen. Diese werden in der Rezeptionsästhetik Unbestimmtheitsstellen genannt. Die Rezeptionsästhetik ist der zweite Ansatz, den ich hier vorstellen möchte. Sie ermöglicht einen Blick auf die Bedingungen, die der Rezeption eines Kunstwerks zugrunde liegen (siehe Abschnitt 4.1.2).

4.1.1 Ästhetische Erfahrung nach John Dewey

Der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey hat in seinem erstmals 1934 erschienenen Buch Kunst als Erfahrung die Bedeutung ästhetischer Erfahrung beschrieben. Beginnend mit Dewey wandte sich die moderne Ästhetik der subjektiven Erfahrung zu, nachdem die moderne Wissenschaft und Philosophie den Glauben der Antike, des Mittelalters und der Renaissance, Eigenschaften wie Schönheit seien objektive Merkmale der Welt, widerlegt hatten.(2)

In seiner Theorie beschreibt Dewey das, was ein Kunstwerk ausmacht, mit dem Begriff der ästhetischen Erfahrung(3). Ein Kunstwerk entsteht danach erst in der ästhetischen Erfahrung, die im Schaffensakt bzw. in der Wahrnehmung eines Kunstgegenstandes begründet ist.

Dewey's Theorie entwickelte sich vor dem Hintergrund, daß ein Neudenken der Kunst durch ästhetische Erfahrung zu einer Erweiterung des Kunstfeldes und einer stärkeren Integration der Kunst in das Alltagsleben führen würde(4). Die Wiederherstellung der Kontinuität zwischen ästhetischer Erfahrung und gewöhnlichen Lebensprozessen ist dabei sein zentrales Anliegen. Denn nach Dewey werden die charakteristischen Werte, die unsere alltäglichen Freuden bestimmen, im Kunstwerk entfaltet und hervorgehoben.

Aus pädagogischer Sicht erhält seine Arbeit besondere Relevanz, da nicht der Kunstgegenstand als solcher, sondern dessen Wahrnehmung und die damit verbundene Erfahrung im Mittelpunkt seiner Betrachtung steht.

Definition ästhetischer Erfahrung

Jede Erfahrung ist das Resultat von Interaktion zwischen einem lebendigen Geschöpf und einem bestimmten Aspekt von Welt, in der es lebt. Erfahrungen werden ständig gemacht, denn die Interaktion von Mensch und Umwelt ist Teil des unmittelbaren Lebensprozesses. Eine ästhetische Erfahrung besitzt besondere Eigenschaften, die sie als ein Ganzes, als eine Erfahrung kennzeichnet. Diese innere Eigenständigkeit der ästhetischen Erfahrung verbindet Dewey mit dem Begriff Erlebnis. Eine solche Erfahrung zeichnet sich durch die Vollendung einer Entwicklung aus:

    "Eine Arbeit wird zufriedenstellend abgeschlossen; ein Problem findet seine Lösung; ein Spiel wird bis zum Ende durchgespielt; eine Situation ist derart abgerundet, daß ihr Abschluß Vollendung und nicht Abbruch bedeutet [...]. Erfahrung in diesem vitalen Sinne wird von jenen Situationen geprägt, die wir spontan als ‘reale Erfahrung' bezeichnen; von jenen Dingen, von denen wir in der Erinnerung sagen: ‘Das war ein Erlebnis!'" (5)
Oftmals bleibt jedoch eine Erfahrung unvollständig. Sie ist durch Trennung und Auflösung gekennzeichnet und führt zu keinem Abschluß. Alles, was das Erkennen der Beziehung zwischen passivem Erleben und aktivem Tun beeinträchtigt, schränkt die Erfahrung ein. Durch oberflächlichen Tatendrang und ein Zuviel an Empfänglichkeit wird verhindert, daß die Erfahrung sich zu einem vollständigen Ganzen entwickeln kann.(6)

Eine Erfahrung, die nichtssagend und zusammenhanglos ist, bezeichnet Dewey als anästhetisch. Jede Erfahrung, die eine Einheit darstellt, trägt hingegen immer einen ästhetischen Charakter.(7)

Die Vollständigkeit und Einheitlichkeit, die eine Erfahrung abrundet, beruht auf deren emotionalen Anteil. Dieser kann jedoch nicht gesondert von der Erfahrung betrachtet und als bloßes Gefühl bezeichnet werden.(8)

Denn jede Denkerfahrung hat einen ästhetischen Anteil. Sie unterscheidet sich von Erfahrungen mit allgemein anerkanntem ästhetischen Charakter nur dadurch, daß sie sich nicht an stofflichen Eigenschaften festmachen läßt. Daher läßt sich eine ästhetische Erfahrung nicht scharf von einer intellektuellen Erfahrung trennen. Denn diese muß, um vollständig zu sein, ästhetische Eigenschaften besitzen.(9)

Das Kunstwerk als Erfahrung

Im Kunstwerk sieht Dewey die Vergegenwärtigung der ästhetischen Erfahrung. Da Kunst als Schaffen und deren Wahrnehmung und Wertschätzung als Genuß sich gegenseitig stützen, läßt sich an ihr die Beziehung zwischen Tun und Erleben erkennen. Diese Erkenntnis zeichnet eine bewußte Erfahrung aus: 

    "Kunst vereinigt in ihrer Form eben jene Beziehung von aktivem Tun und passivem Erleben, von abgegebener und aufgenommener Energie, die eine Erfahrung zur Erfahrung macht." (10)
Diese Beziehung ist bei einem starken künstlerisch-ästhetischen Erlebnis so eng, daß sie Tun und Erleben gleichzeitig bestimmt.(11)

Das Kunstwerk stellt die Einheit aus der Verschmelzung von verschiedenen Akten, Episoden und Begebenheiten dar, die dabei weder verschwinden, noch ihren eigenen Charakter verlieren. Dewey vergleicht diesen Zustand mit einem Gespräch, in dem die persönlichen Charaktere der beteiligten Personen wichtige Bestandteile sind, wenngleich sie im Gespräch verschmelzen.(12)

Der materielle Teil des Kunstwerks gehört der allgemeinen Welt an. Er wird vom Ich auf eine bestimmte Art und Weise assimiliert und gestaltet. Dieser Vorgang gilt sowohl für die Produktion als auch für die Rezeption des Werkes(13). Schaffensprozeß und Rezeptionsprozeß sind beide von gestaltender Art. Damit betont Dewey, daß Rezeption nicht Passivität bedeutet.

Das Werk kommt erst zustande, wenn Mensch und Produkt derart zusammenwirken, daß das Ergebnis eine Erfahrung darstellt(14). Daraus folgt, daß ein Kunstwerk jedesmal neu erschaffen wird, wenn es ästhetisch erfahren wird.(15)

Dewey unterscheidet zwischen zwei Möglichkeiten, Bedeutungsinhalte zu vermitteln. Er gebraucht dafür die Begriffe Aussage und Ausdruck. Die für die Wissenschaft typische Aussage stellt Bedeutunginhalte fest, die Kunst bringt diese zum Ausdruck.

Eine Aussage zeigt Bedingungen auf, unter denen die Erfahrungen eines Objekts oder einer Situation gemacht werden. Sie ist mit einer Absicht verbunden. Kunst ist jedoch die unmittelbare Verwirklichung einer Absicht. Während eine Aussage sich durch eine Hinführung zur Erfahrung auszeichnet, ist das Kunstwerk eine zum Ausdruck gebrachte Erfahrung. Es bedeutet Erfahrung. Ein Kunstwerk wirkt nicht in der Dimension der korrekten, beschreibenden Aussage, sondern in der Erfahrung als solche.(16)

Es mag denen, die es beeindruckt, auch etwas über das Wesen ihrer eigenen Erfahrung vermitteln. Es präsentiert dann die Welt in Form einer von ihnen gemachten neuen Erfahrung.(17)

Die Ausdruckskraft, die ein Kunstwerk für dessen Betrachter hat, ist eng verbunden mit seinen früheren Erfahrungen. Bei der Betrachtung des Kunstgegenstandes verschmelzen die bestehenden Bedeutungen und Werte früherer Erfahrungen mit den im Kunstwerk direkt dargestellten Eigenschaften(18). Diesen Ausgleich von Neuem und Altem nennt Dewey Imagination:

    "Denn während jede Erfahrung in der Interaktion eines Lebewesens mit seiner Umwelt wurzelt, wird Erfahrung erst bewußt und Perzeption, wenn Bedeutungen hinzutreten, die von früheren Erfahrungen herrühren. Allein durch Imagination können diese Bedeutungen ihren Weg zu einer lebendigen Interaktion finden; oder vielmehr, [...] der bewußt vollzogene Ausgleich von Neuem und Altem ist Imagination." (19)
Bei einem Kunstwerk sind die Bedeutungen in dem Material verkörpert, das Medium des Ausdrucks wird(20). Jede Kunstform besitzt ihr eigenes Medium, das einer bestimmten Kommunikationsart besonders angepaßt ist. Es drückt etwas aus, das in einer anderen Art nicht so gut oder nicht so vollständig geäußert werden kann.(21)

Im Nachvollzug des künstlerischen Aktes kann die ästhetische Perzeption geschärft und deren Inhalt bereichert werden. Die charakteristische Verfahrensweise des Künstlers zu begreifen, ist förderlich für das ästhetische Verstehen(22). Die spezifische Qualität ästhetischer Erfahrung bedarf jedoch keiner Replikation in der Sprache. Vielmehr können mit Hilfe der Sprache Anleitungen gegeben werden, die zeigen, wie man in der Erfahrung auf diese Qualität stößt.(23)

Dewey's Definition von Kunst trägt einen evaluativen Charakter. Er stellt dabei die subjektiven und unmittelbaren Empfindungen beim Schaffensakt und bei der Kunstrezeption in den Mittelpunkt. Dieses Vorgehen wurde und wird oft kritisiert, da es die gesellschaflichen Bedingungen von Kunst unberücksichtigt läßt.(24)

Seine Aussagen bezüglich ästhetischer Erfahrung sind jedoch nach wie vor für die Betrachtung von ästhetischen Wahrnehmungsprozessen bedeutsam. Sie bilden die Grundlage der ästhetischen Bildung, die ästhetische Erfahrung einbezieht.(25)

4.1.2 Der rezeptionsästhetische Ansatz

Die aktive Rolle des Betrachters wurde bereits bei der Beschreibung des interaktiven und partizipativen Charakters von Netzkunst erwähnt (siehe Abschnitt 3.2.1 und 3.2.2). An dieser Stelle möchte ich den rezeptionsästhetischen Ansatz einführen, der das Zusammenspiel von Autor, Kunstwerk und Betrachter behandelt.

Mit dem Blick auf den Kunstgegenstand heißt dies, daß das Werk verschiedene Deutungen zuläßt, die von dem jeweiligen Betrachter abhängen. Wolfgang Iser spricht in diesem Zusammenhang von Leerstellen. Mit Leerstelle bezeichnet er den Spielraum eines Werkes, der vom Betrachter eigene Deutungen erfordert. Die Leerstelle wird vom Betrachter ergänzt, so daß die vollständige Bedeutung des Kunstwerks erst durch den Betrachter geschaffen wird. Er verbindet das Wahrgenommene mit seinen bisherigen Erfahrungen und konstituiert dabei das Kunstwerk (siehe auch Abschnitt 3.2.2).(26)

Die Leerstellen finden sich z.B. in literarischen Texten dort, wo der Leser Handlungen oder Zusammenhänge in die Geschichte hineindenkt, ohne das diese explizit im Text beschrieben werden. Das Werk ist punktuell unvollendet und muß vom Betrachter vollendet werden. Rezeptionsästhetik arbeitet werkorientiert. Daher ist weniger der individuelle Betrachter eines Kunstwerks von Bedeutung, sondern vielmehr der implizite Betrachter, der im Werk enthalten ist. In diesem Zusammenhang wird auch von der Betrachterfunktion des Werkes gesprochen. Bei der Entstehung eines Kunstwerks und dessen Präsentation ist der Betrachter implizit schon vorhanden. Jedes Kunstwerk ist adressiert. Es soll bestimmte Wirkungen erzielen. Die Aufgaben der Rezeptionsästhetik liegen daher im Erkennen der Zeichen und Mittel, mit denen Kunstwerk und Betrachter kommunizieren, sowie im Lesen dieser Zeichen im Hinblick auf sozialgeschichtliche und ästhetische Aussagen.(27)

Dabei fällt der Blick auf die äußeren und inneren Zugangsbedingungen für den Betrachter. Die äußeren Zugangsbedingungen beziehen sich auf die Präsentationsform des Kunstwerks. Sie enthalten Fragen nach den räumlichen und zeitlichen Bedingungen, die die Rezeption bestimmen. Als innere Zugangsbedingungen werden individuelle und soziale Prädispositionen beschrieben(28). Auf Netzkunst bezogen sind diese Prädispositionen z.B. der Zugang zu einem Computer mit Internetanschluß sowie Kenntnisse und Fähigkeiten, die einen sinnvollen Umgang mit diesem Medium ermöglichen. Die Rezeption von Netzkunst erfordert beispielsweise häufig gute Englischkenntnisse.

Was für den Betrachter Zugangsbedingungen sind, sind für das Kunstwerk die Bedingungen seiner Erscheinung. Hierzu gehören z.B. die materiellen Bedingungen des Mediums (siehe Abschnitt 3.1).

Diese Bedingungen und die Art und Weise, wie der Betrachter in das Werk einbezogen bzw. von ihm ausgeschlossen wird, sind Gegenstand der rezeptionsästhetischen Betrachtung. 

Mit dem Blick auf die Voraussetzungen ästhetischer Erfahrungen und die Rezeptionsbedingungen von Kunst lassen sich Aufgaben formulieren, die an die ästhetische Bildung gestellt werden können. Diese Aufgaben werden im Folgenden behandelt.

4.2 Aufgaben ästhetischer Bildung

Als Aufgabe ästhetischer Bildung beschreibt Wolfgang Schulz die Förderung der Orientierungs- und Reflexionsbereitschaft, sowie die Förderung der Fähigkeit, offene Situationen nicht nur zu ertragen, sondern immer wieder herzustellen. Es soll nicht nur erlernt werden, bewußt persönliche Erfahrungen zu machen, sondern diese auch persönlich zu verarbeiten und zu präsentieren. Bildung solle auch dazu dienen, zur eigenen Sozialisation und Erziehung auf Distanz zu gehen und sie als interessenbedingt, historisch überholbar, widersprüchlich und in eigener Verantwortung interpretierbar zu erkennen. Dies wird gefördert durch die Erschütterung der Klischees und Traditionen angesichts bedeutsamer Eigenerfahrung sowie durch die Offenheit, in der Mensch und Welt durch bedeutungsvolle und zugleich mehrdeutige Bearbeitung von Erfahrung gehalten werden.(29)

Gunter Otto umschreibt diese Erschütterung als emotionale Anteilnahme, in der sich Stutzen, Nachdenken, Irritation und Infragestellung mit sinnlicher Praxis verbinden. Dies geschieht vor allem dann, wenn Erwartungen, Routinen und Konventionen nicht erfüllt werden(30). Besonders geeignet, diese Aufgaben zu erfüllen, ist für Schulz Bildung auf der Grundlage originärer Erfahrung und ästhetischen Handelns, kurz: ästhetische Bildung.

Unter ästhetischem Handeln versteht Schulz menschliches Denken und Wirken, wenn es originäre Erfahrung verarbeitet, die nicht von vorher festgelegten Zwecken gesteuert ist und die sich nicht in verallgemeinernder Begriffssprache einordnen läßt(31). Dieses Denken und Wirken enthält auch nichtbegriffliche, sinnfällige Gestaltungen und Formungen bzw. deren Nachvollzug.

Die daraus gewonnene ästhetische Erkenntnis zielt nicht auf begründete Absichten. Ihre Ergebnisse sind dennoch rational im Sinne von intersubjektiv begründbar. Ebenso kann eine ästhetische Aussage auf Erkenntnisse theoretischer und praktischer Vernunft zurückwirken(32). Eine solche Erkenntnis ermöglicht auch eine Reflexion über das Erfahrene.

Sich auf die Komplexität und die Originalität einer Erfahrung einzulassen, ist nur dann möglich, wenn zweckgebundene, tradierte und konventionelle Aufmerksamkeitshaltungen verlassen oder von vornherein vermieden werden(33). Bei dieser Form der Erfahrung gewinnt das umfassend an Gestalt, was gefürchtet, erhofft, durch-schaut oder erlitten wird.(34)

Bildungsrelevant ist nach Schulz auch der kritische Charakter von Kunst. Der mit dem Kunstwerk verbundene kritische Akt ist dabei denen möglich, die sich durch Kunst bewegen lassen und denen, denen die Verfremdung des Gewohnten in ästhetischer Wahrnehmung gelingt. Das ästhetische Erfahren eines Kunstwerks, bedeutet nicht nur Teilhabe am Leben, wie es ist, sondern kann auch als "Kritik des Lebens", jenes Lebens, wie wir es vorfinden, angesehen werden.(35)

Nachdem nun einige wesentliche Aufgaben und Ziele ästhetischer Bildung aufgezeigt wurden, wende ich mich dem Bildungspotential von Netzkunst zu. Dazu werde ich als Beispiel die Arbeit des Künstlerduos Jodi heranziehen, aus der ich im nächsten Abschnitt einige Teile kurz beschreiben möchte.

4.3 Beispiel: Jodi

Das Künstlerduo Jodi gehört zu den Pionieren der Netzkunst. Ihre Website ist bereits seit August 1995 im WWW zugänglich. Neben ihnen gehören u.a. David Blair(36), Joachim Blank und Karl Heinz Jeron(37), Heath Bunting(38) sowie Antonio Muntadas(39) zu den Künstlern, die als erste das WWW als Kunstmedium nutzten(40). 1997 waren Jodi auf dem Medienkunstfestival Ars Electronica in Linz und auf der documenta X in Kassel vertreten. Ihre Popularität stieg dadurch stark an. 

Hinter dem Pseudonym Jodi verbergen sich Joan Heemskerk und Dirk Paesmans. Beide waren, schon bevor sie zur Netzkunst kamen, künstlerisch tätig. Dirk Paesmans arbeitete mit dem Medium Video, Joan Heemskerk mit Fotografie. Sie haben zusammen an der Universität von San José eine Ausbildung zum Multimedia-Programmierer abgeschlossen und dabei ihre ersten künstlerischen Erfahrungen mit dem WWW und dem Browser Mosaic gemacht.(41)

Der prozessuale Charakter der Netzkunst wird am Beispiel Jodi schnell deutlich. Mitte 1997 bestand ihre Homepage bereits aus über 350 Seiten(42). Ständig kommen Seiten hinzu oder werden überarbeitet, einige verschwinden. Dies verleitet Simon Lamunière im Kurzführer zur documenta X dazu, Jodis Website mit einer wachsenden Maschine zu vergleichen, über die man jede Kontrolle verloren hat(43). Aufgrund ihrer ständigen Veränderung kann jede Beschreibung dieser Website immer nur eine Beschreibung des momentanen Zustands sein. Unverändert bleiben dagegen die Prinzipien, Vorgehensweisen und einige charakteristische Erscheinungsformen, welche wesentlichen Anteil am Erscheinungsbild der Arbeiten von Jodi haben. Diese sollen im Folgenden beschrieben werden.

4.3.1 Die Websites

Lange Zeit waren die Arbeiten von Jodi über die beiden Eingangsseiten (Homepages) unter <http://www.jodi.org> und <http://404.jodi.org> aufrufbar. Dabei ist erstere die Adresse, die auch in den meisten Linklisten zu finden ist. Seit kurzem ist die Arbeit OSS/ (siehe Abschnitt 4.3.1.3) hinzu gekommen. Sie ist unter der Adresse <http://oss.jodi.org> erreichbar.

Seit März 1999 nehmen Jodi auf ihrer Startseite Bezug auf die aktuellen Kriegshandlungen im Kosovo und Serbien. Es finden sich dort an Jodi gesandte und teilweise bearbeitete Stellungnahmen zum Krieg. Direkte Links bestehen dort z.Z. nur zu OSS/ und zur Internetseite des unabhängigen Belgrader Radiosenders B92.(44)

Alle andern Seiten von Jodi, die früherer über deren Startseite zugänglich waren, erreicht man z.Z. nur über die längere URL (Uniform Resource Locator)(45) <http://www.jodi.org/100>.

Weitere Projekte oder Teile der Website von Jodi befinden sich auch auf anderen Servern, wie z.B. auf den Websites der Internationalen Stadt Berlin(46), des Netzkünstlers Vuk Cosic(47) oder auf dem Netzkunstserver äda'web(48).

%20Options (www.jodi.org/100)

Wie bereits erwähnt, ist der größte Teil der Arbeit von Jodi im WWW unter <http://www.jodi.org/100> zu erreichen. Diese Seite mit dem Namen %20Options besteht aus einer schlichten Grafik, die einem Raster entsprechend vertikal und horizontal untergliedert ist (siehe Abb. 10). Bei jedem erneuten Aufruf erscheint diese Seite in einer anderen Farbe. %20Options ist eine Art sensitive Karte, in der unsichtbar Links zu weiteren Seiten versteckt sind. Nur mit Hilfe des Mauszeigers und der Fußzeile des Browsers ist ein Navigieren möglich. Einige über diese Links zugänglichen Seiten sollen hier exemplarisch betrachtet werden.

%20Location

Beim Aufruf der Seite %20Location kommen nacheinander 25 Seiten zum Vorschein, die sich zunächst durch eine kryptische Aneinanderreihung von Schriftzeichen in grüner Farbe auf schwarzem Hintergrund auszeichnen (siehe Abb. 11). Dieses Erscheinungsbild erinnert an monochrome Bildschirme vergangener Computergenerationen(49). Bevor sich vor einigen Jahren Farbbildschirme durchsetzten, wurden hauptsächlich Computerbildschirme benutzt, die lediglich grüne oder bernsteinfarbene Schrift auf schwarzem Hintergrund darstellen konnten. Das Besondere dieser Seite kommt beim Aufrufen des Sourcecodes(50) zum Vorschein. Der Sourcecode dieser Seiten zeigt aus ASCII-Zeichen(51) entstandene Grafiken (siehe Abb. 12). Im Sourcecodes einer Website erwartet man keine Bilder, da sich dort normalerweise die für das Erscheinungsbild der Seite verantwortlichen Daten und Verweise, wie z.B. das HTML-Programm befinden. Hinzu kommt, daß man den Sourcecode in der Regel nur aufruft, um zu erfahren, wie die Programmstruktur der Seite aussieht. 

Die Bilder können an dieser Stelle nur aus Schriftzeichen bestehen, da das Einbinden von Bildern und Grafiken im Sourcecode nicht vorgesehen ist. Diese Bilder aus Buchstaben und anderen Schriftzeichen schaffen also dort eine Bildlichkeit, wo sonst Bilder lediglich in Form von (schriftlichen) Verweisen auf Bilddateien repräsentiert werden. Anders ist dies bei der Website. Deren Besonderheit, Bilder einzubinden, gilt als der entscheidende Vorteil, den das WWW gegenüber anderen Computernetzen bietet.

Was den Bild- und Zeichencharakter einer Website betrifft, haben Jodi also die Rolle des Sourcecodes und der daraus hervorgehenden Website miteinander vertauscht. Auf der Website sieht man die lineare Aneinanderreihung von Schriftzeichen und im Sourcecode findet man Bilder.

%20Select und %20Quit

Unter den Bezeichnungen %20Select und %20Quit stößt man auf Seiten, die beim ersten Hinsehen einen defekten Computer oder Bildschirm vermuten lassen. Schlichte, meist in Schwarz und Weiß gehaltene Grafiken aus Linien und Buchstaben flackern über den Bildschirm.

In diesen hin- und herspringenden Bildern müssen die Links, wie bei fast allen Seiten von Jodi, mit Hilfe der Maus "erfühlt" werden. Durch die ständigen Bewegungen des Bildes oder einzelner Bildteile entsteht dabei eine Art "Hasch-mich" Effekt, da sich die verlinkten Flächen mitbewegen.(52)

%20Wrong (404.jodi.org)

Die Seite %20Wrong ist unter der URL <http://404.jodi.org> zu erreichen. Sie ist eine sogenannte Error-Page. Diese Seite wird immer dann aufgerufen, wenn eine URL aufgerufen wird, die unter Jodi nicht existiert.

Über die Seite %20Wrong sind die drei Seiten %20Unread, %20Unsent und %20Reply zu erreichen. Sie geben dem Betrachter die Möglichkeit, über ein Eingabefeld Wörter oder andere Zeichenkombinationen auf die jeweilige Seite zu laden. Am unteren Rand des Browserfensters befindet sich das Eingabefeld, in das der Betrachter beliebige Zeichen eingeben kann. Diese Zeichen werden wie bei der Eingabe eines Passworts oder einer Geheimnummer durch Sternchen ersetzt. So kann diese nicht am Bildschirm kontrolliert werden. Nach der Bestätigung der Eingabe durch die Returntaste oder durch einen Mausklick wird diese an den Servercomputer von Jodi gesandt und erscheint anschließend in veränderter Form auf dem Bildschirm des Betrachters. Die drei Seiten %20Unread, %20Unsent und %20Reply unterscheiden sich im Erscheinungsbild und in der Art der Veränderung der Eingaben.

Auf der Seite %20Unread (siehe Abb. 9) erscheinen nur noch die eingegebenen Konsonanten, Zahlen und Satzzeichen. Vokale tauchen nicht mehr auf. So entstehen nahezu kryptische Zeichenreihen, die teils entschlüsselbar sind, teils nur noch grafische Gestaltfunktionen erfüllen. Die Eingaben aller Betrachter werden zeilenweise aufgelistet, so daß auch die Eingaben anderer sichtbar werden. Auffallend ist, daß viele Betrachter versuchen, das Handicap der fehlenden Vokale zu beheben, indem sie diese durch andere Zeichen oder Umlaute ersetzen. Manchmal entstehen auch kurze Dialoge, wenn gleichzeitig zwei Betrachter auf die Seite zugreifen. Dann erscheint nach der Bestätigung der Eingabe nicht nur das Ergebnis der eigenen Eingabe auf dem Bildschirm, sondern zusätzlich auch noch das Ergebnis der Eingabe einer anderen Person. Die zweite Seite, die man über %20Wrong erreichen kann, ist %20Unsent. Die Seite %20Unsent ähnelt bezogen auf die stattfindende Interaktion der Seite %20Unread. Hier bleiben von den eingegebenen Zeichen allerdings nur die Vokale übrig. Dadurch wird die Rekonstruktion von eingegeben Wörtern unmöglich. Die dritte Seite unter %20Wrong nennt sich %20Reply. Beim Aufruf dieser Seite erscheinen Zahlen und Buchstabenkombinationen, die auf IP-Nummern(53) hinweisen und am linken Bildrand aufgelistet werden. Die vom Betrachter in das Eingabefeld eingegeben Zeichen sind nach der Eingabebestätigung auf dem Bildschirm nicht mehr sichtbar, lediglich die IP-Nummer des verwendeten Rechners wird zu der bereits bestehenden Liste hinzugefügt. Die vollständigen Eingaben der Betrachter sind nicht sichtbar, da sie in schwarzer Schrift auf schwarzem Hintergrund erscheinen. Sie werden erst dann lesbar, wenn die Fläche hinter den Nummern markiert wird und damit die Schrift vor einem weißen Hintergrund erscheint.

OSS/ (oss.jodi.org)

Jodi beschäftigen sich intensiv mit den Möglichkeiten und Grenzen der Darstellbarkeit mittels Browser(54). Diese Intention zeigt sich u.a. auf der Seite OSS/, die unter der Internetadresse <http://oss.jodi.org> aufgerufen werden kann. Dort findet man eine ausgefeilte Choreografie "tanzender" Browserfenster. 

Beim Aufrufen dieser Seite wird zunächst das Fenster des verwendeten Browsers stark verkleinert und in die obere rechte Ecke des Bildschirms verschoben. An drei anderen Stellen der Bildschirmoberfläche öffnen sich weitere Fenster, die sich von dort aus kreuz und quer über den Bildschirm bewegen, als würden sie um ihren Startpunkt herum tanzen. Auf der linken Seite des Bildschirms bewegen sich die Fenster vertikal von ihrem Startpunkt weg und wieder zurück. Der Gesamtablauf dieses Arrangements ist schwer durchschaubar. Der Betrachter kann den Ablauf der Bewegungen durch das Verschieben einzelner Fenster und durch das Anklicken von in den Fenstern versteckten Links beeinflussen. Durch die scheinbare Sinnlosigkeit dieses Durcheinanders erhält das Ganze den Anschein eines witzigen Unterhaltungsspiels.

4.4 Ästhetische Wahrnehmung und Bildungsprozesse am Beispiel Jodi

In diesem Abschnitt soll erörtert werden, welche Bildungsrelevanz die Auseinandersetzung mit Netzkunst enthält. Es soll gezeigt werden, welche ästhetischen Erfahrungen an Netzkunst gemacht werden können und wie ästhetisches Wahrnehmen dadurch gefördert wird. Diesem Vorgehen liegt außerdem die Absicht zugrunde, die Einbeziehung dieser Kunstgattung in die ästhetische Bildung voranzutreiben, um den bewußten und kritischen Umgang mit dem Medium Internet zu fördern.

4.4.1 Irritationen, Störungen und Verwirrungen

Die für Jodis Arbeiten typische collagenartige Zusammensetzung von Text- und Bildfragmenten führt zu Verwirrungen, die immer wieder Assoziationen zu Störungen und Fehlern hervorrufen(55). Die Schaffung eines Zusammenhangs bleibt dem Betrachter überlassen. Dirk Paesmans sagt dazu in einem Interview:

    "Wir benutzen unsere Homepage nicht, um Informationen zu verbreiten. Wir zeigen Screens [Bildschirmoberflächen, d.V.] und Sachen, die auf diesen Screens passieren. Wir vermiden Erklärungen." (56)
Der unvorbereitete Betrachter vermutet möglicherweise, daß Computerviren für das Durcheinander von Texten und Fenstern verantwortlich sein könnten. Hinweise dazu finden sich auch in den Titeln einiger Seiten von Jodi, die Namen von Computerviren tragen. Simon Lamunière formuliert die Aufgabe, welcher Jodi nachgehen, daher folgendermaßen:
    "Einer Maschine eine andere Bedeutung geben, sich für Viren, Störungen und Fehler interessieren, das ist die Aufgabe von jodi."(57)
Für Lamunière ist Jodis Arbeit ein Programm, das wie ein formelles Spiel in der Welt der Informatik ausgearbeitet wurde.(58)

Durch eben jene Irritationen und Verwirrungen wird bei der Rezeption der Arbeit von Jodi eine Offenheit erreicht, die eine komplexe, nicht zweckorientierte Erfahrung ermöglicht. Zweckgebundene, tradierte, konventionelle, für das Internet übliche Aufmerksamkeitshaltungen müssen verlassen oder vermieden werden, um persönliche Erkenntnisse aus dieser Arbeit zu ziehen (siehe Abschnitt 4.1.1). Das Werk muß ästhetisch erfahren werden. 

Dies kann nicht durch oberflächliches Betrachten der Seiten geschehen. Es erfordert ein Durchschauen der Vorgehensweise der Künstler und ein Erkennen der Zusammenhänge, in denen das Werk entstanden ist und sich weiter verändert. Dazu bedarf es einer Vermittlung der Entstehungszusammenhänge oder zumindest der Fähigkeit sich diese Zusammenhänge selbständig zu erarbeiten. Hier könnte die ästhetische Bildung ansetzen, um die Auseinandersetzung mit dem Internet und dem Computer kritisch zu begleiten.

4.4.2 Thematisierung des Computers und des Internets

Das Material, das Jodi verwendet, stammt größtenteils aus dem Internet und dem Computer. Sie erforschen den Computer von innen und reflektieren das im Netz(59). In einem Interview mit Josephine Bosma beschreibt Dirk Paesmans den Umgang mit diesem Material:

    "We use certain elements, like a virus, whether a virus is present, or whether things go wrong with somebody's ‘cache', somebody's personal computer. A lot of these elements are collages of things that are found on the net. The natural enviroment of us, of Jodi, is the net and you can find a certain condensed form of the net in Jodi." (60)
So verweisen beispielsweise die verwendeten Termini unread, unsent und reply auf eine mögliche Kommunikation per E-Mail. Durch die Vorsilbe "un" und den gesamten Aufbau der Seiten gerät die Frage nach Kommunikationsstörungen in den Vordergrund. Der in der URL enthaltene Hinweis auf eine Error-Meldung (404) unterstreicht diese Vermutung. Das grafische Erscheinungsbild der Seiten %20Unread und %20Unsend macht dabei auf den Bildcharakter der Schriftzeichen aufmerksam und kann als typisch für die Arbeiten von Jodi gelten.

Auf der Seite %20Location haben Jodi den Bild- und Zeichencharakter der Website vertauscht, indem dort Bilder im Sourcecode auftauchen. Die dort verwendete Art der Bilderzeugung mittels ASCII-Zeichen geht auf Zeiten zurück, in denen Computernutzer ASCII-Grafiken per E-Mail verschickten, da das Versenden von Bildern zu aufwendig war.(61) Daran läßt sich die technische Entwicklung bewußt machen, durch die sich das Erscheinungsbild neuer Medien ständig verändert.

Mit der Anzeige der vom Betrachter verwendeten IP-Nummer auf der Seite %20Reply machen Jodi auf unsichtbare Daten aufmerksam, die Teil des Datenaustausches im Internet sind und zu einer Identifizierung des Betrachters führen können.

Die Arbeit von Jodi zeichnet sich besonders durch die Konfrontation mit der Art und dem Inhalt der Präsentation aus. Der Netzkünstler Alexeij Shulgin beschreibt diese Form der Kommunikation folgendermassen:

    "Sie [Jodi, d.V.] kommunizieren eigentlich überhaupt nicht mit Leuten, sondern mit dem Netz selbst, dessen Anhängsel die Leute sind. Alles, was sie machen, sind Reflexionen über Dinge, die im Netz vor sich gehen und ihre Antworten darauf, also auf technologische Prozesse, ästhetische Prozesse usw. In gewisser Weise sind sie auch sehr kommunikativ." (62)
Jodi benutzen die Rezeptionsbedingungen des Internets als Ausgangspunkt für ihre Arbeiten. Sie reflektieren damit Verhaltensweisen und Wahrnehmungsmuster, die beim Gebrauch des Mediums auftreten bzw. gefördert werden. Die Irritationen, die durch die Arbeit ausgelöst werden, tragen dazu bei, sich die Bedingungen bewußt zu machen, unter denen die Rezeption stattfindet. Hierbei zeigen sich die für eine rezeptionsästhetische Betrachtung relevanten Zeichen und Mittel, mit denen kommuniziert wird.

4.4.3 Kritisches Potential

Wie bereits beschrieben ist auch der kritischen Charakter eines Kunstwerks bildungsrelevant, da allein durch die Verfremdung des Gewohnten ein kritischer Abstand angeregt wird (siehe Abschnitt 4.2).

Diese kritische Herangehensweise zeigt sich bei Jodi schon an dem Wahrnehmungsbruch, den man erfährt, wenn man von einer typischen, kommerziell ausgerichteten Website auf die von Jodi trifft. Man scheint plötzlich jede Orientierung zu verlieren und sucht vielleicht zunächst nach vertrauten Zeichen wie Buttons oder Hypertextlinks. Findet man diese, erscheinen sie in keinem sinnvollen Zusammenhang.

Jodi verweigern bewußt die Unterstützung bekannter Verhaltensmuster, die den Betrachter in einer Konsumentenrolle festlegen. Sie verstehen ihre Arbeit als eine Kritik an der High-Tech Kultur und der Mystifizierung des Computers. Sie sei jedoch nicht politisch orientiert, da sie weder etwas Politisches thematisiere, noch versuche, etwas zu "erzählen".

Jodis Vorgehensweise kann meiner Ansicht nach trotzdem als politisch bezeichnet werden, da die zugrundeliegende Absicht, den allgemeinen Umgang mit dem Internet und dem Computer zu kritisieren, Fragen von politischer Bedeutung aufwirft. Zudem sehen sich Jodi in enger Verbindung mit alternativen und politisch orientierten Projekten.(63)

Auf der Seite map befinden sich beispielsweise über 50 Links zu anderen Netzkunstprojekten, alternativen und politischen Projekten und Mailinglisten. Die Seite map zeigt ein Diagramm, auf dem die wichtigsten Verbindungen und Provider des Internets dargestellt sind. Die Namen der Provider haben Jodi durch die Namen der alternativen Projekte und der Kunstprojekte ersetzt.(64)

4.4.4 Einbeziehung des Betrachters

Die im Internet stattfindende Interaktion erlaubt eine Einbeziehung des Betrachters, die über das übliche Ausfüllen der im Kunstwerk vorhandenen Leerstellen hinaus geht (siehe Abschnitt 3.2.2). Sie ermöglicht eine Reflexion dieses Vorgangs, in dem dieses Ausfüllen direkt sinnlich wahrnehmbar wird. Dies läßt sich an einer Betrachtung der Seiten %20Unread und %20Unsent verdeutlichen (siehe auch Abschnitt 4.3.1.2). Beim ersten Aufrufen der Seiten ist zunächst die Bedeutung dessen unklar, was dort zu sehen ist. Man sieht am unteren Rand des Browserfensters ein Eingabefeld, das vermuten läßt, darüber eine Nachricht versenden zu können. Unklar ist dabei, an wen diese Nachricht versendet wird und was damit geschieht. Deshalb senden viele Betrachter Fragen wie: "Was ist denn hier los?" oder "What the hell is going on here?" (siehe Abbildung 9). Nach dem Bestätigen und Versenden der Nachricht per Returntaste oder per Mausklick auf einen Button mit der Aufschrift "Re" wird diese umgehend auf dem Bildschirm angezeigt. In diesem Moment wird man mit dem konfrontiert, was man dem Werk hinzugefügt hat. Man hat die Nachricht an sich selbst versandt und sie ist unvollständig angekommen. Dieser Vorgang läßt sich mit verschiedenen Bedeutungen füllen. Man kann ihn beispielsweise als eine Metapher für Kommunikationsstörungen sehen, die bei der Verwendung des Computers als Kommunikationsmedium auftreten können. Nach dem man verstanden hat, wie die Interaktion mit der Seite abläuft, kann man dazu übergehen, diese Seite mit Buchstaben und Zeichen zu gestalten oder versuchen, das eingebaute Handicap zu umgehen, in dem man die fehlenden Buchstaben durch Umlaute oder andere Zeichen ersetzt. Hier zeigt sich der spielerische Anteil dieser Arbeit. Daß bei der hier stattfindenden Interaktion der Betrachter selbst und sein Spieltrieb im Vordergrund stehen und nicht die mögliche Kommunikation mit anderen Betrachtern, zeigt sich auf der Seite %20Unread. Nur wenige Eingaben, die sich dort entziffern lassen, stellen den Versuch dar, mit anderen Betrachtern in Kontakt zu treten.

Bei der Beschäftigung mit diesen Seiten %20Unread und %20Unsent zeigt sich eine neue Qualität der Interaktion zwischen Betrachter und Werk. Ist es dem Betrachter in der Literatur nicht möglich, direkt auf das Werk einzuwirken, wird er nun sichtbar zum Gestalter. Weil sein Anteil am Werk sichtbar wird, wird er in die Lage versetzt, diesen bewußter wahrzunehmen. Die Sichtbarkeit der Anteile anderer am Werk ermöglicht ihm außerdem, auf deren Eingaben zu reagieren. Aus rezeptionsästhetischer Sicht betrachtet heißt dies, daß der Rezeptionsvorgang nicht mehr nur darin besteht, die im Kunstwerk angelegten Leerstellen auszufüllen (siehe Abschnitt 4.1.2). Die direkte Veränderung des Werkes durch den Betrachter, enthält zudem einen reflexives Vorgehen. Das Kunstwerk ermöglicht nicht nur einen Austausch zwischen Werk und Betrachter, sondern auch die Kommunikation über diesen Austausch selbst.


1 vgl. Meder 1998, 26ff

2 vgl. Shusterman 1997, S. 860

3 vgl. Dewey 1980, S. 188

4 vgl. Shusterman 1997, S. 867

5 Dewey 1980, S. 47f

6 vgl. ebd., S. 58

7 vgl. ebd., S. 52f

8 vgl. ebd., S. 54

9 vgl. ebd., S. 50f

10 ebd., S. 62

11 vgl. ebd., S. 63

12 vgl. ebd., S. 49

13 vgl. ebd., S. 126ff

14 vgl. ebd., S. 249

15 ebd., S. 128

16 vgl. ebd. S. 100ff

17 vgl. ebd., S. 99

18 vgl. ebd., S. 166ff

19 vgl. ebd., S. 319

20 vgl. ebd. S. 320

21 vgl. ebd., S. 125

22 vgl. ebd., S. 238

23 vgl. ebd., S. 251

24 vgl. Shusterman 1997, S. 859ff

25 vgl. Schulz 1997, S. 99

26 vgl. Iser 1970, S. 6ff

27 vgl. Kemp 1986, S. 206

28 vgl. ebd., S. 207

29 vgl. Schulz 1997, S. 38

30 Otto 1991, S. 147ff

31 Eine derart strikte Trennung zwischen originärer Erfahrung und ästhetischem Handeln findet sich bei Dewey nicht. Für Dewey ist ästhetisches Handeln vielmehr Teil einer ästhetischen Erfahrung.

32 vgl. Schulz 1997, S. 34ff

33 vgl. ebd., S. 119

34 vgl. ebd., S. 108

35 vgl. Schulz 1997, S. 118f

36 David Blair ist seit Januar 1994 im Internet vertreten: <http://jefferson.village.virginia.edu/wax/html/1989.html>

37 Das Internetprojekt Handshake von Joachim Blank und Karl Heinz Jeron fand 1993/1994 statt: <http://sero.org/handshake/>

38 Heath Bunting arbeitet seit September 1995 mit dem Internet: <http://www.irational.org>

39 Seit Mai 1994 ist Antonio Muntadas Fileroom über das Internat zugänglich: <http://fileroom.aa.uic.edu/ fileroom.html>

40 vgl. Huber 1998b, <http://www.hgb-leibzig.de/ARTNINE/netzkunst/jodi/index.html> (10.12.98)

41 vgl. Paesmans, in: Baumgärtel 1998, S. 17

42 vgl. Lamunière 1997, S.110

43 vgl. ebd., S. 110

44 <http://www.b92.net>

45 URL ist eine Bezeichnung für die im Internet verwendeten Adressen.

46 <http://www.icf.de/jodi/>

47 <http://www.vuk.org/jodiblink/>

48 <http://adaweb.walkerart.org/context/jodi/>

49 vgl. Kerscher 1999, S. 110

50 Im Sourcecode befindet sich das HTML-Programm, daß alle für die Erscheinung der Website nötigen Daten enthält.

51 ASCII steht für American Standard Code for Information Interchange. ASCII ist ein Codierungsschema, das Buchstaben, Zahlen, Satzzeichen und anderen Zeichen numerische Werte zuweist. Die Standardisierung dieser Werte ermöglicht den Austausch der Zeichnen zwischen Computern und Computerprogrammen.

52 vgl. Jäckel 1998, <http://www.rz.uni-frankfurt.de/~kerscher/nSem/cj/cj.html> (6.1.99)

53 Jeder am Internet angeschlossene Computer besitzt eine Internet-Nummer, die auch IP-Nummer genannt wird. Diese ist notwendig für den Datenaustausch und dient zur Zuordnung der versendeten Daten.

54 vgl. Lamunière 1997, S.110

55 vgl. Lamunière, S. 110

56 Paesmans, zitiert in: Baumgärtel 1998, S. 23

57 Lamunière 1997, S. 110

58 vgl. ebd., S. 110

59 vgl. Paesmans, in: Baumgärtel 1998, S. 22

60 Paesmans, zitiert in: Bosma 1997, <http://www.nettime.org/nettime.w3archive/199703/msg00088.html> (10.1.99)

61 siehe hierzu auch die ASCII-Art Sammlung unter <http://wigwam.askoyv.no/Ascii/>

62 Shulgin 1997, zitiert in: Medosch 1997, <http://www.heise.de/tp/deustch/special/ku/6172/1.html> (21.2.99)

63 Dies zeigt sich u.a. an deren indirekter Stellungnahme zu den derzeitigen Kriegshandlungen in Jugoslawien (siehe Abschnitt 4.2.1).

64 vgl. Paesmans, zitiert in: Baumgärtel 1998, S. 20


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(c) Klaus Möller (1999-07-17) / E-mail: klaus_moeller@gmx.de